Die aktuelle COVID-19-Pandemie stellt auch den Hochschulbereich vor erhebliche Herausforderungen. Gemeinsam mit anderen Hochschulgruppen haben wir uns daher bundesweit für das „Solidarsemester“ stark gemacht. Im folgenden findet ihr einen Überblick über unsere Forderungen dazu. Weitere Informationen, den gesamten Aufruf, sowie die gemeinsame Pressekonferenz und den aktuellen Stand findet ihr auf www.solidarsemester.de
Studentischer Forderungskatalog zur Lage der Hochschulen
Absagen der Präsenzlehre, Einschränkungen des Hochschulbetriebs, sowie individuelle Isolation führen zu einer nie da gewesenen Situation. Das Leben an den Hochschulen ist charakterisiert durch Stillstand, der durch die Unangepasstheit derzeitiger Regelungen zur erheblichen Unsicherheit bei allen Beteiligten führt. Auch abseits vom Kerngeschäft der Hochschulen, bspw. in der studentischen Arbeit und in der Pandemiebewältigung öffnen sich Regelungslücken, die den Beteiligten mitunter zum erheblichen Nachteil geraten.
Konkrete Problemlagen ergeben sich bereits in der Semestergestaltung. Hochschulen sind nicht auf eine flächendeckende Umstellung ihrer Lehre auf ein digitales Studium eingestellt. Neben Defiziten bei der Qualifikation der Lehrenden und der digitalen Infrastruktur zeigt sich auch bildungswissenschaftlich, dass digitale Lehre erst in Kombination mit Präsenzformaten zu nachhaltigen Lehr- und Lernerfolgen führt.
Auf studentischer Seite kommt es zu erheblichen Problemen. Studierende verlieren ihre Jobs und müssen sich um Angehörige kümmern, nicht zuletzt durch die Schließung von Kindertagesstätten. Hinzu kommt, dass adäquate technische Ausstattung und gute Internetanbindung nicht bei allen Studierenden und Hochschulen vorausgesetzt werden kann.
Wir rufen zu einem Sommer der Solidarität an den Hochschulen auf, in welchem Lehrende und Studierende gemeinsam die Herausforderungen der Krise angehen, strukturelle Entlastung gewährt und der Leistungsdruck ausgesetzt wird – von allen Seiten.
Forderungen an die Hochschulen
Das Sommersemester 2020 wird sich von allen Semestern zuvor und hoffentlich auch danach unterscheiden. Die vielen Praxisprobleme, die durch die COVID-19-Pandemie hervorgerufen werden, erfordern ein entschiedenes Umdenken und müssen mit der notwendigen Flexibilität gelöst werden. Damit wir in dieser außerordentlichen Situation uns den Problemen stellen können, kann das Semester nur durch solidarische Zusammenarbeit aller Statusgruppen gestaltet werden. Für eine erfolgreiche Gestaltung eines Solidarsemesters 2020 halten wir folgende Punkte für unumgänglich:
Semestergestaltung
- Der Vorlesungszeitraum muss so verkürzt werden, dass die Lehrenden angemessene Vor- und Nachbereitungszeit haben, um qualitativ hochwertige Online-Studienangebote bereitzustellen.
- Für Studierende sind die Nachteilsausgleichs- und Härtefallregelungen angemessen zu erweitern, um individuelle krisenbedingte Nachteile, z. B. eingeschränkte Internetzugänge, parallele Sorgeverpflichtungen, etc. auszugleichen.
- Studierende müssen die Möglichkeit erhalten, den Bedingungen und Inhalten angepasste Prüfungs- und Studienleistungen zu erbringen. Dabei ist durch die Hochschulen zu gewährleisten, dass der Erwerb von Leistungspunkten/ECTS auf die spezifische Situation der Studierenden angepasst wird und Studierenden keine Nachteile durch den umgestellten Lehrbetrieb entstehen.
- Auslaufende Studienordnungen und -gänge müssen in Abstimmung und im Einvernehmen mit den Dozierenden um ein Semester verlängert werden.
- In Studienordnungen, die zwingend aufeinander aufbauende Veranstaltung enthalten, muss dieser Zwang für die nächsten drei Semester entfallen.
- Zwangs-Exmatrikulationen müssen ausgesetzt werden.
- Für verpflichtende Praxissemester und -phasen sind flexible Regelungen insbesondere bei dualen Studiengängen, Lehramtsstudiengängen, Studiengängen der Sozialen Arbeit und anderen Studiengängen mit staatlicher Anerkennung zu schaffen, um den frühestmöglichen Berufseinstieg bzw. Beginn des Vorbereitungsdienstes zu ermöglichen. Im Falle von ausfallenden Praxissemestern sollte die Möglichkeit von semesterbegleitende Praxisphasen geprüft werden.
- Die Hochschulen müssen sicherstellen, dass eine kostenlose Ausleihe an Bibliotheken weiterhin möglich ist oder, wenn dies gerade nicht der Fall ist, so schnell wie möglich wieder eingeführt wird.
- Aus dem Wintersemester nachgeholte Prüfungen müssen je nach Vorbereitungspensum frühzeitig angekündigt werden und dürfen keinesfalls verpflichtend durchgeführt werden.
- Die Prüfungslast darf sich nicht gegen den Willen der Studierenden durch im Sommersemester/Wintersemester nachgeholte Prüfungsleistungen, welche aktuell verschoben werden, erhöhen.
- Prüfungen, die nur jährlich im Sommersemester angeboten werden, müssen zusätzlich im Wintersemester 20/21 angeboten werden.
- Alle Prüfungsfristen und automatischen Nichtbestehensregelungen sind auszusetzen und um mindestens ein Semester zu verlängern.
- Alle Prüfungsversuche im Sommersemester werden als Freiversuche gewertet, d.h. sie werden im Falle des Nichtbestehens nicht gezählt und können im Falle des Bestehens zur Notenverbesserung wiederholt werden.
- Aussetzung von Anwesenheitspflichten
- Die krisenbedingten Anpassungen der Hochschulen müssen nicht bundesweit einheitlich gestaltet sein. In jedem Seminar jedoch unterschiedliche Abgabefristen wahren zu müssen, führt jedoch zu Unklarheit und damit Unsicherheit bei Studierenden. Stattdessen muss es überall transparente und faire Maßnahmen geben.
- Den Studierenden, die einen internationalen Studienabschnitt („Auslandssemester“) nicht antreten konnten bzw. abbrechen mussten, sollte ermöglicht werden, dass sie gleichberechtigt Zugang zu den (Online-) Lehrangeboten des Sommersemesters 2020 haben.
- Für verpflichtende Studienabschnitte im Ausland sind Nachholmöglichkeiten oder Ersatzleistungen zu gewährleisten.
Beschäftigungsbedingungen
Beschäftigungsverhältnisse an den Hochschulen
In der aktuellen Situation geht es für die meisten Bereiche der Hochschulen weder um „Exzellenz“ noch um „Zukunftsfähigkeit“, sondern um die Bewältigung einer Ausnahmesituation. Dem muss auch in den Beschäftigungsverhältnissen Rechnung getragen werden. Die Lehrkräfte und die anderen Mitarbeitenden der Hochschulen stehen wie die Studierenden mitunter vor existenziellen Fragen. Auch bei Lehrenden und Mitarbeitenden muss auf die individuelle Belastung durch die aktuelle Pandemiesituation Rücksicht genommen werden. Dies bedeutet:
- Hochschulen müssen ihrer sozialen Verantwortung nachkommen und alle Verträge (befristete Arbeitsverträge, Forschungs-, Verwaltungs- und Lehrprojekte) reibungslos und unterbrechungsfrei um mindestens sechs Monate verlängern. Dabei sind studentische Beschäftigte explizit einzuschließen!
- Die zusätzliche Arbeitsleistung, welche (insbesondere studentische) Beschäftigte mit der Umstellung auf digitale Lehre erbringen, muss in der Arbeitszeit und Entlohnung abgebildet werden.
- Lehraufträge auf Honorarbasis müssen in jedem Fall bezahlt werden, auch wenn die Lehre nicht oder nur eingeschränkt stattfinden sollte.
- Lohnfortzahlung in allen Bereichen: Die Hochschulen und die Studierendenwerke müssen sich und Subunternehmen, die für die Hochschulen arbeiten, verpflichten, die Lohnfortzahlung auch bei Arbeit auf Abruf (0-hour contracts), 450€-Jobs und Werkstudierenden zu garantieren.
- Es erscheint unverantwortlich, die Arbeitsbelastung durch die Umstellung auf digitale Lehrformen hochzusetzen, nur um einen frühzeitigen Semesterstart gewährleisten zu können. Dies kann nicht im Interesse der Qualität der Lehre sein. Deswegen muss der Vorlesungszeitraum so gestaltet werden, dass die Lehrenden angemessene Vor- und Nachbereitungszeit haben, um qualitativ angemessene Online-Studienangebote bereitzustellen.
Kinderbetreuung
Hochschulangehörige und extern Beschäftigte (inklusive studentische Beschäftigte) mit Kindern sind derzeit besonders belastet, da Kitas und Schulen geschlossen werden. Dies erfordert eine unbürokratische Aussetzung der Präsenzpflicht am Arbeits- und Studienplatz für Menschen mit Sorgeaufgaben. Ebenso darf die Betreuung von Kindern aufgrund von Kita- und Schulschließungen nicht über unbezahlten oder regulären Urlaub geregelt werden. Es muss anerkannt werden, dass von Mitarbeitenden, die während ihrer Arbeitszeit im Homeoffice gleichzeitig ihre Kinder betreuen, nicht das gleiche Arbeitspensum erwartet werden kann.
Krisenarbeit der Studierenden
Wenn Studierende im Rahmen der Pandemiebewältigung tätig werden, wird ihnen eine große Verantwortung zuteil. Diese Arbeit kann die Gesellschaft unterstützen, die COVID-19-Pandemie zu bewältigen. Dabei muss jedoch stets gewährleistet werden, dass die, die sich jetzt für diese Arbeiten melden, ausreichend geschützt sind. Damit sie ihrer Verantwortung gerecht werden können, müssen faire Arbeitsbedingungen herrschen. Dies beinhaltet insbesondere:
- ausreichend Material und Anleitung, um adäquaten Arbeits- und insbesondere Infektionsschutz zu gewährleisten,
- verlässlichen Rechts- und Versicherungsschutz,
- angemessene Entlohnung im Rahmen der individuellen rechtlichen Bedingungen, nach Möglichkeit sollte der Tariflohn bezahlt werden und
- gute und umfangreiche Einweisung und Anleitung in die entsprechenden Handlungsweisen und Tätigkeiten.
Digitalisierung
„Digitalisierung“ ist ein beliebtes Schlagwort der Hochschullandschaft. Wir halten an dieser Stelle fest: Diese Krise ist keine Chance, sondern ein riesiges Problem. Das gilt in der jetzigen Situation auch für die Digitalisierung. Denn Online-Lehre kann und darf die Präsenzlehre nicht ablösen. Blended-Learning, d. h. die Integration digitaler Lehre in Präsenzlehrangebote, sollte mittel- bis langfristig ausgebaut werden. Das sogenannte E-Learning stellt mehr als ein bloßes E-Teaching dar, digitale Lehre bedeutet nicht, ein Seminar mit 30 Teilnehmenden vor einer Webcam durchzuführen.
Hinzu kommt, dass die Bildungswissenschaften nachgewiesen haben, dass eine reine Online-Lehre die Präsenzlehre nicht ersetzen kann ohne den Lernerfolg massiv einzuschränken. Die im Solidarsemester 2020 praktizierte Online-Lehre sollte daher weitestgehend als Provisorium betrachtet werden und wird sicherlich nicht in allen Fächern gleich gut funktionieren.
- Die Krise offenbart den schon lange bestehenden Bedarf an Fachwissen und Arbeitskraft im Bereich E-Learning und Digitalisierung an Hochschulen, deswegen müssen schnellstmöglich weitere Dauerstellen für Digital-Fachkräfte an den Hochschulen geschaffen werden, die die Lehrenden und die vorhandenen Mitarbeiter*innen in den zentralen Einrichtungen der Hochschulen sowie in Technik und Verwaltung unterstützen.
- Einheitliche Qualitätsstandards für digitale Lehre müssen geschaffen und eingehalten werden. Auch deswegen sollte Geld in die Fachkräfte statt kommerzielle Software investiert werden.
- Es braucht Fortbildungen für Dozierende für Online- und Blended-Learning-Formate. Denn Wissen zu Blended Learning kann nicht bei allen Dozierenden vorausgesetzt werden.
- Bei allen digitalen Lehrformaten muss zudem immer die Inklusion der Studierenden mitgedacht werden. In der Praxis heißt das, dass verschiedene Möglichkeiten zur Teilnahme an Modulen bereitgestellt werden.
- Es müssen neue Lehrkonzepte ausgearbeitet werden. Bei freiwilligen Formaten kann hier auch gerne experimentiert werden.
- Open-Source-Werkzeuge sollen der Standard an Hochschulen werden. Zudem soll in der Lehre verstärkt auf Open-Access-Materialien zurückgegriffen werden.
- Nicht zuletzt muss die digitale Lehre asynchron stattfinden können und darf kein schnelles Internet voraussetzen. Die aktuelle Überlastung der Netze zeigt, dass dieses nicht bei allen Studierenden vorhanden sein wird.
Hochschuldemokratie
Um die Lehre im Solidarsemester 2020 neu regeln zu können, stehen viele Entscheidungen innerhalb der Hochschulen an. Aufgrund der Krisensituation werden und wurden diese schnell getroffen und umgesetzt. Aber auch, wenn schnelle Entscheidungen erforderlich sind, müssen die Hochschulgremien mit in die Entscheidungsfindung der Rektorate, Präsidien und Dekanate eingebunden werden. Die digitale Umstellung der Lehre und des Hochschulalltags darf nicht zur Aussetzung demokratischer Wahlgrundsätze führen und eine ad hoc Einführung von Online-Wahlen generieren. Durchdachte Entscheidungen der Hochschulgremien erfordern ein hohes Maß an Diskussion und Partizipation und können nicht allein durch Umlaufverfahren geregelt werden. Hier muss gewissenhaft mit Audio- und Videokonferenzen und -chats gearbeitet werden.
Explizit für die Bewältigung der Coronakrise fordern wir, dass in allen Krisenstäben der Hochschulen mindestens ein*e Teilnehmer*in aus jeder Statusgruppe beteiligt sein muss. Nur so wird verhindert, dass berechtigte Interessen ganzer Gruppen von Hochschulangehörigen aus dem Blickfeld geraten. Auch Einzel- und Sonderfälle können so am besten im Entscheidungsprozess abgebildet werden.
Auch über die Hochschulen hinaus gilt: Gremien oder Organisationen, die im Hochschulbereich Empfehlungen geben oder Entscheidungen treffen, sollen proaktiv auf Studierendenvertretungen zugehen und deren Perspektive einbinden.
Gemeinsam die Herausforderung gestalten
Bereits jetzt muss im Blickfeld aller Akteur*innen sein, dass es bei der zwangsläufigen Verkürzung und den zu erwartenden Ausfällen, aber auch bei der Verschiebung oder sogar des Ausfalls aller Formen von Prüfungen, die zum Hochschulzugang berechtigen, zu Domino-Effekten für die kommenden Semester kommen wird. Es ist daher eingehend zu prüfen, welche der oben genannten Maßnahmen auch auf folgende Semester anzuwenden sind.
Nur Studierende können ein realistisches Bild der studentischen Lebensrealität und Studiensituation vermitteln und damit die Erfolgsaussichten von geplanten Maßnahmen einschätzen. Für eine erfolgreiche Gestaltung des Solidarsemesters im Sommer 2020 müssen Studierende unbedingt in die Planungen der Hochschulen, der Länder und des Bundes mit einbezogen werden.
Weitere Informationen, die gemeinsame Pressekonferenz und den aktuellen Stand findet ihr auf www.solidarsemester.de